Es muss US-Behörden ein leichtes sein, intime Gespräche mitzuschneiden. Anders ist nicht zu erklären, warum sich US-Offizielle gegen den Verkauf von ICQ an ein Nicht-US-Unternehmen aussprechen, mit der Begründung, jeder bekannte Verbrecher sei auf ICQ – und die Verbrechen dort seien schwerer zu ahnden, wenn die Server in Russland stehen.
Eigentlich sollte man sich denken: „Na und?“, denn dass US-Behörden einen Straftäter, der sich über ein elektronisches Medium strafbar gemacht hat, leichter fassen, wenn dieses Medium der eigenen Gerichtsbarkeit unterliegt, das liegt ja eigentlich auf der Hand.
Im Fall von ICQ, dessen Hersteller ursprünglich aus Israel stammt und das seit Ende der 90er zu AOL gehört, liegt der Fall so, dass die Server noch in Israel stehen, was kein Problem war, weil die USA und Israel ja eng verbündet sind – da tauscht man auch mal ein paar Daten aus, hey, es dient ja der guten Sache, siehe Navy CIS (die TV-Serie ;-). Doch die neuen russischen Besitzer von ICQ wollen das ICQ-Hauptquartier wohl umziehen – oder sie könnten es zumindest tun.
Auweh. Russen! Bolschewiken! Commies! Ja, da ist das Bohei plötzlich groß… Zitat ft.com:
„Israel and the US are close allies and in some cases US investigators have gained access to the chat transcripts on ICQ of criminal suspects“
Aha. Soso. Mit anderen Worten: Irgendwelche underfuckten Schlapphüte delektieren sich nächtens an den verschwitzen ICQ-Chats weltweiter Frischverliebter und speichern auf Staatskosten die Festplatten ihrer NSA-Server mit Dirty-Talk-Protokollen voll. Das allein fände ich schon ein bisschen klebrig, indes, es geht natürlich nicht um uns, die friedlichen Bürger, sondern um die schwarzen Schafe in unserer Mitte.
Der moderne Kriminelle chattet nämlich gern, vor allem hier drüben in Old Europe. Zitat ft.com:
„ICQ is […] according to law enforcement investigators […] one of the main avenues of communication for criminal groups in eastern Europe“
([…] = Kürzungen durch mich) und
“Every bad guy known to man [is on] ICQ,” one investigator said in an interview.
Wow. Every bad guy known to man. Bei dieser Aussage handelt es sich garantiert um eine überdrehte, wahlweise vom Geld-Gossenblatt FT oder vom interviewten Wichtigtuer. However: Aus diesem Grunde wollen laut diesem Bericht, den Sie allerdings nur lesen können, wenn Sie sich bei ft.com anmelden (und dann ziemlich genervt sind), sowohl DOD als auch Homeland Security nicht wirklich, dass die ICQ-Server nach Russland umziehen.
Das wirft ein interessantes Licht auf Aspekte, die zugespitzt folgende Schatten werfen:
- Chats werden mitgeschnitten, aber sicher nicht nur diese. Internetausdrucker drucken diese dann aus und investigators lesen das Papier dann. Kurz: das digitale Ich unterliegt Begehrlichkeiten. Erst recht, wenn die Server in den USA oder in deren extrem verbündeten Staaten liegen.
- Die USA wollen nicht, dass unsere digitales Ichs woanders liegen als im direkten Einflussbereich der USA, weil dann haben sie keinen optimalen Zugriff mehr drauf.
- Die USA hätten offenbar gern möglichst vollen Zugriff auf alle unsere digitalen Ichs.
Betrachten wir unsere Existenz nicht bloß als analoge, sondern auch als digitale, so könnte man tatsächlich davon sprechen, dass die US uns zwangsweise einbürgern wollen… ach Blödsinn. Lassen wir mal diese Polemik beiseite: Sie wollen zumindest nicht, dass ihre eigenen Landsleute digital ausgebürgert werden. Offenbar setzt sich zumindest dort langsam die Erkenntnis durch, dass unsere digitalen Ichs auch eine digitale Zugehörigkeit haben, die längst keine „Staatszugehörigkeit“ mehr ist. (Hierzulande wird das wohl noch dauern.)
Es stellen sich paranoide Fragen:
- Ist es empfehlenswert, seine Daten bei einem US-Unternehmen speichern zu lassen, wo man gerne mal mitgeschnitten & abgehört wird? (Die unsrigen täten es sicher auch gern, stellen sich aber weitgehend blöd an.) Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, dass ich noch weniger gern meine Daten bei einem russischen Unternehmen gespeichert wüsste …
- Müssten deutsche Unternehmen gezwungen werden, offen zu legen, wo sie ihre Daten speichern (lassen)? Die Frage stellt sich vor allem mit steigender Bedeutung der Clouds, bei denen Rechenleistung und Speicherkapazität bei Dienstleistern eingekauft werden – gerne auch im Ausland.
- Kann man US-Unternehmen im Medien- oder IT-Bereich noch anders sehen als als „Staatsunternehmen“, die der freien Wirtschaft entzogen sind? Schließlich zeigt sich, dass „feindliche internationale Übernahmen“ vor allem im Datenbereich im Sinne der Staatsräson wohl eher nicht erwünscht sind.
Dafür habe ich sogar Verständnis – und ich würde mir gelegentlich auch einen Hauch von Staatsräson nach US-Vorbild in unser Land wünschen. Denn unsere digitale Identität ist real, und sie befindet sich auf Servern in Nationen, deren Rechtsverständnis nicht immer unserem entspricht. Es ist höchste Zeit, sich das klar zu machen. Nur was tun?