Ehrlich gesagt hatte ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil ich drei Stunden in der 1. Klasse stand, aber nur ein 2.-Klasse-Ticket gekauft hatte. Hätte es ein Schaffner geschafft, sich von der Stelle zu bewegen, ich hätte nicht gewusst, wie ich das ihm oder ihr gegenüber verargumentieren soll, mich in die zweite Klasse zu quetschen, wo ich hingehöre, statt in die erste, in die ich mich gequetscht hatte. (Falls hier einer Sozialneid raushört: das Gegenteil ist der Fall. Vielmehr hätte ich mich als Erstklassist drüber aufgeregt, dass die Bahn nicht verhindert, dass mir stehende Mitfahrer ihre Backen an die Wange pressen.)
Die Enge im Zustiegsbereich hatte auch ihr Gutes, es gab kaum Aggressionen oder Pöbeleien. Stattdessen heitere Scherze zu Begriffen wie „InterCity Express„. Gottlob hatte niemand gesundheitliche Probleme, die Bahn hat ja schon genug am Hals, da wäre es echt nicht gut gekommen, wenn jemand wegen der schlechten Belüftung umgekippt wäre und dann vielleicht auf eines der Kinder gefallen, die sich auf Gepäckhöhe an Beine klammerten.
Der Geschäftsreisende, der den Sitzplatz auf der IC-Toilette ergattert hatte, bot ihn regelmäßig den drei Passagieren an, die sich halb in den Eingang des WCs quetschten. (Das WC als WC zu nutzen war ohnehin niemandem möglich, da sich keiner zu ihm hin bewegen konnte.)
„Ich werde meine Bahncard 100 zurückgeben.“, grimmte der Mann vor mir, dem ich mehrere Stunden lang so nahe war wie zuletzt meiner Frau auf dem Lambada-Tanzkurs. Bahncard 100, das ist so ein 3200-Euro-Ticket, mit dem man das Recht hat, den Service der Bahn in Form einer Flatrate zu genießen, so oft man möchte. Ein Sitzplatz ist im Preis von 3200 Euro natürlich nicht inbegriffen. (Reservierungen sind bei den IC-Ersatzzügen nicht möglich.)
PS: Schon bei der Buchung hatte ich viel Freude. Ich darf von mir behaupten, einer der ersten gewesen zu sein, der damals das neue Webangebot von bahn.de genutzt hat. Ich glaube, nie war ich so nah an einem Blutsturz. Damals hatte ich in der Bahn eine lange Mail geschrieben und die Hirnrissigkeit ihres Interfaces mit Verbesserungsvorschlägen beschrieben und sie gebeten, ihre Web-Agentur wegen Unfähigkeit zu feuern. Eine anonyme Vertreterin jener Web-Agentur schrieb mir eine beleidigte Mail zurück – geändert hat sich in einem guten Jahrzehnt nichts. Noch immer ist es gefährlich, in einem zweiten Browser-Fenster etwas zu tun, während die Bahn.de-Seite lädt, sonst meldet einen die Seite in der Mitte des Buchungsvorgangs ab – und hey, wozu Cookies benutzen, um sich zu merken, welche Strecke ich bisher ermittelt hatte… Noch immer vergessen Formulare ihre Inhalte, wenn man auf ein Angebot wie „Abweichende Lieferadresse“ klickt, um das Formular zu erweitern. Etc. Kurz: Das ist noch nicht mal 1.0.
Laut Wikipedia hat die Bahn seit Mehdorn ihre Mitarbeiterzahl von 320.000 auf 230.000 verringert. Kann jeder bestätigen, der versucht, dem Onlineangebot durch einen Besuch am Schalter zu entgehen.