Die Zeit, in der ich „1984“ las, war geprägt von Ideen wie „No Future“ und „Big Brother“ sowie Angst vor der nahenden nuklearen Vernichtung durch die Supermächte. Ich gebe allerdings zu, dass ich „1984“ in meiner SF-Bücher-verschlingenden Jugend einen verdammt doofen Roman fand. Erstens ist dieser knockentrockene Langweiler verdammt bräsig geschrieben. Zweitens war George Orwell sichtlich ein Propagandist, und, wie man inzwischen annimmt, auch ein Denunziant im Auftrage genau jener Staatsmacht, vor dessen Totalität er stets warnte. Und drittens ist meine Mindestforderung an eine Dystopie, dass sie glaubwürdig sein muss. Wer aber, so fragte ich mich bei „1984“, wer würde schon zulassen, dass die Welt so wird, wie dieser Roman sie darstellt?
Sorry, George, heute muss ich Dir Abbitte leisten. Wie in der – meines Erachtens weit besseren – Dystopie „Schöne neue Welt“ von Huxley werden wir uns freiwillig in Ketten legen. Den Überwachungsstaat also selbst installieren. Alle Zutaten für den totalitären Eintopf sind bald zusammen:
- Fast jedes Notebook, und bald auch fast jeder PC haben Mikrophon und Kamera,
- die Leute „broadcasten“ sich schon heute hemmungslos, siehe zaplive.tv,
- und heute, am 10.12. veröffentlichte das W3C den Draft zur Capture API.
Das W3C ist das Gremium zur Standardisierung der das World Wide Web betreffenden Techniken. Eine API (Application Programming Interface) ist allgemein gesprochen eine Sammlung von Regeln, dank der eine Software, die sich an diese Regeln hält, mit einem Betriebssystem (und der Hardware, die es steuert), das sich ebenfalls an diese Regeln hält, kommunizieren kann. Der Draft bedeutet nun also nicht, dass alle diese Technik einführen müssen oder sich alle daran halten werden. Und es war auch bisher schon möglich, Mikrophon und Kamera aus dem Web anzuzapfen, zum Beispiel per Flash.
Die Capture API erleichtert jedoch das Zusammenspiel von Video/Audio/Foto-Aufnahmen durch das Web. Künftig muss niemand mehr wissen, wie man das Problem, eine Kamera anzuzapfen, löst, denn die Capture API wird eine fertige Funktion dafür bereitstellen, auf jeder Kamera, in jedem PC. Anbieter von Webservices müssen diese nur noch ansprechen.
Was bedeutet das nun? Es bedeutet, dass wir drauf und dran sind, großflächig eine Infrastruktur der Videokommunikation einzuführen. So, wie Bildtelefonate via Skype zwischen zwei Personen heute kein Problem mehr sind, können Videogespräche zwischen beliebigen Systemen bald die Struktur sozialer Netzwerke durchdringen und so die landläufige Dialogstruktur völlig auflösen. Statt kurze Text-Statements loszulassen, diese zu kommentieren, die Kommentare zu kommentieren und das alles miteinander zu vernetzen, könnten das in Zukunft Video-Statements tun. (Ob das wirklich so kommt? ISDN-Bildtelefone waren Flops, Videopostcasts sind noch immer rar… Video ist nur scheinbar „einfacher“ als Text und setzt eine visuelle Alphabetisierung voraus, die noch nicht mal die Schule vermittelt.)
Als Rufer in der Wüste möchte ich dazu auch einige Warnungen loswerden. Damit es im Jahr 2084 nicht heißt, es hätte niemand die Zeichen gesehen:
Mit der Einführung der Videokultur wird die Textkultur noch weiter abgeschafft. Wir werden daher, glaube ich, noch weiter verdummen. Das mag aber nur die Ansicht eines Kulturpessimisten sein, und Polemiker werden nun Platon anführen, der im Phaidros (einige Übersetzungen hier) durch die Stimme des Thamos vor der Einführung der Schriftkultur (!) warnt:
…du hast jetzt, als Vater der Schrift, aus Voreingenommenheit das Gegenteil von dem angegeben, was sie vermag. Denn diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis, da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnen. Also nicht ein Mittel zur Kräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du erfunden. Und von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen
und so weiter, Papa Platon wortete damals ziemlich Stephen-King-mäßig was zusammen, man müsste das mal in einer gekürzten Lite-Version relaunchen. Jedenfalls wird klar: immer das gleiche! Schon vor 2500 Jahren warnte ein Denker vor der Schrift, in 250 Jahren werden Teletubby-Philosophen in Videos den Untergang der Videokultur bejammern, und auch heute sind es die gleichen immer & ewig alten Säcke, die über den Verlust der Schrift lamentieren, meist Journalisten und Autoren, die ihre Altpapier-Pfründe bewahren wollen.
Ich setze dem entgegen, dass ich es für einen Irrglauben halte, den Fortschrittsgedanken der Technik („alles wird immer besser“) auf die Kultur anwenden zu können. Wir hatten in Europa schon eine Hochkultur, ehe das finstre Mittelalter kam. Wir hatten eine Aufklärung, ehe wir Nazis hatten. Wir lernen in der Schule Physik und lassen uns als Erwachsene Horoskope erstellen, „Bild“ ist die #1-App auf dem iPhone. Wer mal drüber nachdenkt, wird feststellen, dass Platons Stimme im Zitat letztlich recht hatte. Wir sind gewiss blöder als der griechische Adel, wenn auch schlauer als die damals in Demokratien üblichen Sklaven.
Es ist sicher fraglich, ob wir technisch heute da wären, wo wir sind, wenn wir nicht ständig auf den Schriften anderer hätten aufbauen können. Kulturell spielt es aber, glaube ich, keine oder eine nur geringe Rolle. Werden wir also künftig auf den „Videos anderer“ eine bessere Kultur aufbauen können als die, die wir heute haben? Schwer vorstellbar – aber vielleicht eben auch nur, weil meine Vorstellungskraft begrenzt ist, 1.0, veraltet, schrottreif, dringend aufs Videolevel zu patchen (ich möchte noch anmerken, dass ich eine Xbox 360 habe, darauf Egoshooter bevorzuge und etwa 700 DVDs besitze (nebst 3000 Büchern), zwei MP3-Player, zwei Digicams, drei Camcorder (DV, Flip und HD) ein Android als Handy … also gewiss kein Feind „neuer Medien“ bin). Jedoch:
Mit der Einführung einer globalen, weil Internet-gestützten Infrastruktur zur Videokommunikation führen wir auch die globale Videoüberwachung ein. Nur dass es nicht mehr der Fernseher ist, der uns anglotzt, sondern der Rechner (was bei zunehmender Konvergenz aber keine Unterscheidung mehr ist). Natürlich führen wir das nicht wirklich ein, stattdessen führen wir nur eine Infrastruktur ein, die sich zur Überwachung missbrauchen lässt.
Viele finden den Beitrag „Standardsituationen der Technologiekritik“ klug, weil er so schön anschauliche Beispiele hat. Ich mag diesen Beitrag ebenfalls. Er täuscht aber nicht über einige Dinge hinweg:
- Die ersten Schritte einer Infrastruktur zum Austausch von Dokumenten auf Papier, aka „Kuriere“, hatte bereits den Missbrauch zur Folge. Sonst hätten die alten Römer nicht die Verschlüsselung erfunden. Mit der Globalisierung der Briefkommunikation, aka „Post“, kam auch die Überwachung von Briefen, etwa in der DDR.
- Die wunderbare Erfindung der globalen Kommunikation mit elektronischen Nachrichten, aka „Mail“, hat selbstverständlich sofort zu Systemen wie „Carnivore“ (USA/FBI) geführt, die dieses überwachen und analysieren. Mit privaten Entsprechungen in Unternehmen – zu Zwecken des Spam-Schutzes – zensieren ähnliche Tools heute bereits auf breiter Front (wofür wir dankbar sind). „Echelon“ überwacht Satellitenkommunikation, China … und so weiter.
- Mit der globalen Einführung einer statistischen Analysetechnik von Zugriffen auf Informationen (die zwangsläufig einhergeht mit der Installation von Webservern, die Logfiles schreiben) entstand überhaupt erst die Grundlage für die „Vorratsdatenspeicherung“.
- Die globale Infrastruktur für die Umwandlung von Webadressen zu IP-Adressen, „DNS“, wurde in diesem Jahr zum Schauplatz für völlig sinnlose, aber höchst malerische „Stop“-Aktionen, mit denen sich Frau von der Leyen zu profilieren versuchte.
Kurz: Wo immer eine Infrastruktur aufgebaut wird, geraten die legale Wirtschaft, aber auch die Schattenwirtschaft mit ihrer Datenmafia, es gut meinende Politiker, aber auch es weniger gut meinende Politiker, und natürlich auch Nachrichtendienste und Kriminelle aller Art in die Versuchung, diese Infrastruktur vor ihren Karren zu spannen.
Das wird mit der Videokommunikation nicht anders sein. Wenn die Kameras überall sind, wird man sie auch nutzen.
Einige typische Einwände:
„Na ja, die sehen mich vor dem Rechner sitzen. Na und?“
Installieren Sie sich mal die Fotobuchsoftware von Pixum oder experimentieren Sie mit der Gesichtserkennung von Picasa oder leihen Sie sich ein Android-Handy und testen Sie Google Goggles, denn dann haben Sie erste Eindrücke davon, was technisch möglich ist und daher bald auch live per Video möglich sein wird. Und: Wenn eine Regierung 2009 nicht davor zurückschreckt, Internet-Seiten zu zensieren, warum sollte sie davor zurückschrecken, Videokommunikation zu zensieren – und zwar automatisch, aufgrund einer Texterkennung; oder weil eine Software errechnet, Ihre Stimmlage wäre „verdächtig“. (Halten Sie für Unsinn? Lesen Sie das hier. Rötzer, der Autor, ist natürlich ein Polemiker, aber die Wege der Übertreibung sind es nun mal, die zu den Palästen der Weisheit führen). Ja, ich bin mir auch nicht sicher, ob Blake das so gemeint hat, wie ich das hier verwende ;-)
„Ich habe nichts zu verbergen, Terroristen schon.“
Gegen dieses „Argument“ lässt sich höchstens was twittern, denn es ist einfach zu dämlich für eine Entgegnung in einen ganzen Satz. Ich schreibe trotzdem ein paar: Es geht ja nicht nur darum, dass der mutmaßlich böse Staat einen überwacht – das ist rein linke Propaganda (in den USA rein rechte), leider dank Spam-Personen wie Frau von der Leyen berechtigt. Es geht auch darum, dass Terroristen diese Infrastruktur ebenfalls anzapfen können. Hacker. Wirtschaftskriminelle. Nur der Bürger, der im Allgemeinen nur „Nutzer“ sein will, wird es nicht können, seine Rolle beschränkt sich aufs Opfer-sein im Cyberwar. Aber jeder, dem es die Mühe wert scheint, wird es sich leisten, einen Spezialisten anzuheuern, der ihm Zutritt verschafft in unsere Wohnzimmer, Schlafzimmer und Konferenzräume. Genau so, wie diese Kriminellen heute schon weltweit Millionen von kompromittierten Rechnern für Spams und andere Attacken nutzen können, weil sie fähige Computergeeks engagiert haben.
Es muss übrigens für einen Polizisten, einen stark angefeindeten Innenpolitiker wie Schäuble oder einen Nachrichtendienstler äußerst befremdend bis erheiternd zu sein, folgendes zu beobachten:
- Die einen Bürger gehen gegen staatliche Videoüberwachung auf die Straße. Sie wollen Datenschutzgesetze. Sie sind gegen Volkszählung.
- Den anderen Bürgern geht sie noch nicht weit genug, sie schalten die Cam fürs Internet frei, tragen sich in möglichst allen social networks ein.